Wolfgang Wasser

Rösrath liest

Wolfgang Wasser

Ein Buch, so sieht es Wolfgang Wasser, kann unseren Blick weiten und uns zu Erkenntnissen verhelfen. »Aber Lesen bedeutet für mich auch, Eintauchen in andere Welten, sich treiben lassen von der Spannung und – ganz wichtig – Lesen fördert die Fantasie.«

Ab dem Alter von zehn Jahren tauchte Wasser in die Welt von Karl May ein und schmökert sich nach und nach durch sämtliche Bände des aus armen Verhältnissen stammenden Schriftstellers. Ein weiteres wichtiges Stück Literatur seiner Jugendzeit war »Andorra«, ein Drama des Schweizers Max Frisch. Wasser hält den Inhalt des Theaterstücks für hochaktuell, weil es die Auswirkun­­gen von Vorurteilen ebenso the­matisiert wie die Schuld der Mitläufer und die Frage nach der Identität eines Menschen gegenüber dem Bild, das sich andere von ihm machen. »Ich habe mein altes Schulexemplar von Andorra immer wieder durchgearbeitet und immer wieder Neues darin entdeckt«, sagt er. Darin zeige sich eben die große literarische Kunst, wenn man in ihr immer wieder etwas Neues sehen kann. Nachdem Wasser das Drama in der ersten Fernsehinszenierung überhaupt erlebt hatte, war auch seine Leidenschaft für das Theater geweckt. Sein Traum ist es bis heute, Andorra gemeinsam mit jungen Leuten zu inszenieren.

Doch erst einmal hat er sich im Sommer auf seinem Balkon durch ein Sachbuch gearbeitet, das er nun vorstellen möchte:

1517. Weltgeschichte eines Jahres. Der Berliner Historiker Heinz Schilling entwirft in dem 364 Seiten starken Band ein Panorama des Jahres, als Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen zur Reform der Kirche veröffentlichte. In den Umbrüchen der Zeit zum Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als sich das Mittelalter zur Neuzeit wandelt, ist 1517 ein entscheidendes Jahr, in dem sich bahn­brech­ende Veränderungen ankündigen oder bereits ihren Ausgang genommen haben. Luther ist dabei nur ein Teil einer Umwälzung. Er wird von Schilling eingebettet in den weltgeschichtlichen Zusammenhang. Denn auch vor 500 Jahren gab es sozusagen glo­bale Trends. Trotz regen Handels ängstigte man sich um die Geldwert-Stabilität, der zentralistische Fürstenstaat entsteht, der Aufstieg des Hauses Habsburg beginnt, die Osmanen dringen von Kleinasien über die arabische Halbinsel nach Nordafrika vor, die Portugiesen treten in Kontakt mit China, die Spanier machen Eroberungen in Mittel- und Südamerika, der Buchdruck verbreitet Luthers Schriften, und es gibt eine Rückbesinnung auf die antiken Wurzeln der europäischen Kultur, Stichworte Renaissance und Humanismus. Daneben glauben viele Europäer wie auch Luther noch an Dämonen und Hex­en. »Die Welt veränderte sich dramatisch, zeigt Schilling, und viele Menschen sorgten sich deshalb um ihre Zukunft und suchten beunruhigt nach ihrer Rolle in dieser Welt«, so Wasser. »Dabei gelingt es dem Historiker Schilling ohne Verzicht auf Wissenschaft­lichkeit, aber mit großer Anschaulichkeit, dass man abtaucht in diese Zeit.« 1517 erscheint in manchen Dingen seltsam bekannt. Schilling: »Vertraut erschei­nen uns … die Friedlosigkeit und die Explosion von Gewalt, von denen wir hörten …, auch in Europa, wo die 1517 geborenen konfessionellen Feindschaften der Christenheit für mehr als ein Jahrhundert in die Selbstzerfleischung mit Terroranschlägen, hemmungslosen Morden und entmenschlichender Verstümmelung Andersdenker führte. Vor diesem Hintergrund werden die Gewaltsexesse unserer Zeit … zu einem bedrückenden Déjà vu.« (Sigrun Stroncik)

Heinz Schilling
1517. Weltgeschichte eines Jahres
C.H. Beck, 364 Seiten, 24,95 Euro