Walter Pees

Rösrath liest

Walter Pees

Seine erste bleibende Leseerfahrung war eine von Gewicht und das nicht nur im literaturgeschichtlichen Sinn. Als Achtjähriger bekam er von seinem Vater David Copperfield in die Hand gedrückt. »Ein Buch schwer wie ein Ziegelstein, mit dem man jemanden totschlagen konnte«, erinnert sich Walter Pees. Ein Jahr habe er damit zugebracht, ein Jahr sich durch den Weltroman von Charles Dickens gekämpft, der mit leicht ironischem Unterton vom Erwachsenwerden der Hauptfigur erzählt – wahrlich kein Kinderbuch. Doch Lesen lernen und die eigene Lesefertigkeit weiterzuentwickeln sei nun einmal Schwerstarbeit. Dass er an den Wälzer auch in all seiner materiellen Beschaffenheit zurückdenkt, ist kein Zufall.

Walter Pees erfreut sich am Sinnlichen, das jedem Buch innewohnt, am Geruch, der beim Blättern der Buchseiten entströmt, am Geräusch, den das Blättern macht, und auch an der unkomplizierten Art seiner Handhabung. Ein Tag ohne Lesen? Den gibt es bei Walter Pees nicht. Und das nicht nur, weil er Buchhändler ist. »Für mich ist Lesen ein Rettungsanker, ich schöpfe daraus Kraft«, sagt er. Manchmal liest er im Ohrensessel seiner Buchhandlung, manchmal frühmorgens vor seinem kleinen Wohnhäuschen, immer aber abends im Bett, dann aber nur Märchen. Unzählbare hat er wohl im Kopf, als Geschichtenerzähler für Kinder und Erwachsene.

Bisweilen entdeckt er ein neues Buch für sich auf unkonventionelle Weise. Dann nimmt er einfach eines in die Hand, schlägt es mittendrin auf, liest eine Passage und wartet, ob es ihn fasziniert. »Dabei ist für mich die Sprache wichtig, die Art wie etwas erzählt wird.« Ein Buch, das ihn deshalb immer wieder in Bann zieht, ist Die kleine Kartäuserin von Pierre Péju. »Der Roman handelt von einem französischen Buchhändler, der ein Mädchen anfährt. Es überlebt schwer verletzt und liegt wochenlang im Koma, und während ihre Mutter die Besuche im Krankenhaus kaum erträgt, schafft der Buchhändler, was sonst nur ein Vater könnte: Er spricht mit dem bewusstlosen Mädchen, erzählt ihm unermüdlich Geschichten, liest ihm die schönsten Texte vor. Nach Wochen erwacht Eva endlich – doch ohne je wieder sprechen zu können.« Die wunderschöne Sprache, die Personenbeschreibungen und die Landschaftsdarstellung, all diese Elemente haben Pees beeindruckt. »Das Lesen von Büchern öffnet Türen. Man lernt Dinge kennen, lernt andere Menschen zu verstehen, zu differenzieren, sich hineinzuversetzen in andere.«

Der Jugendroman von Anne Holm Ich bin David ist auch ein Buch, das Pees immer wieder zur Hand nimmt. »David ist ein Junge, der in einer Art Gefangenenlager aufwächst, unter Menschen verschiedenster Sprachen. Außer dieser Gefängniswelt kennt er nichts. Eines Tages wird dem Jungen die Flucht aus dem Lager ermöglicht. Für David beginnt nun eine lange Wanderschaft, bei der er alles neu erlernen muss und deshalb alles umso intensiver erlebt: die Farben, Landschaften, Gerüche, Klänge, den Geschmack, die Begegnung mit anderen Menschen, die Freiheit. In dem Buch geht es auch um die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse, die wir in unserer Überflussgesellschaft oft vergessen«, erklärt Walter Pees. Mit Davids Augen bekommt der Leser die Möglichkeit, Vertrautes neu zu sehen oder überhaupt erstmals wieder bewusst wahrzunehmen.

»Lesen macht stark«, ist Walter Pees überzeugt. Von dieser Stärke vermittelt er gerne etwas, wenn er beispielsweise Kindergartenkindern Geschichten erzählt. Die Leselust der Kinder können aber eigentlich nur die Eltern wecken. »Dabei geht es gar nicht in erster Linie ums Buch, sondern um die gemeinsam verbrachte Zeit.« Gemeinsam verbrachte Zeit – auch so ein Grundbedürfnis des Menschen, das viel zu wenig Beachtung findet. (Sigrun Stroncik)