Holger Wondratschek

Rösrath liest

Holger Wondratschek

»Goethe fand ich spannend in der Schule, den ›Faust‹ vor allem und ›Die Leiden des jungen Werther‹, bekennt Holger Wondratschek und bricht damit eine Lanze für die gute alte Schullektüre, die nicht immer und nicht für jeden eine Quälerei gewesen ist. Die Deutschlehrer werden es ihm sicher danken. Er tauscht sich noch heute gerne über Literatur aus. Empfohlene, geschenkte, selbst gekaufte, geliehene, immer wieder in die Hand genommene, zum Zahnarzt mitgenommene Bücher: Wie in einem Pingpongspiel schmettert der JUZE-Chef einen Titel nach dem anderen aus dem weiten Feld seiner Leseerinnerung in die Gegenwart seines Gegenübers, das aufpassen muss, auch alles richtig mitzubekommen. Bunt geht es in dieser Kopfreise zu: Allgäukrimis mit dem sperrigen Kommissar Kluftinger tauchen auf, witzige Kurzgeschichten von Frank Goosen, Jon Krakauer mit seinen Reportagen »In eisige Höhe« – das Drama auf dem Mount Everest oder »In die Wildnis«, »Macbeth« von Shakespeare, »Die Physiker« von Dürrenmatt und ganz wichtig »Der Herr der Ringe« von Tolkien: »Beeindruckend wie Tolkien eine eigene mythologische Welt bis hinein in eine selbst erfundene Sprache erschaffen hat.«

Einmal in die Freiheit der eigenen Buchwahl entlassen, ist das Lesen für den studierten Sozialpädagogen Entspannung. »Ich bin ein Sofaleser«, sagt Wondratschek über sich, und einer, der zum Lesen Muße brauche. Neben der richtigen Sofasitzhaltung (Füße hoch) sind ein schöner Erzählstil und gute Unterhaltung unabdingbar für ungetrübten Lesegenuss.

»Wer die Nachtigall stört« erfüllt diese Kriterien bestens. Geschrieben von der US-Amerikanerin Harper Lee, 1960 erschienen, ein Jahr später mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, zwei Jahre später mit Gregory Peck (erhielt dafür einen Oskar) wunderbar verfilmt, so verlief die schnelle Karriere des Buches, auf das Holger Wondratschek durch eine berühmte Rösratherin aufmerksam wurde. »Anke Engelke hatte daraus im Rahmen von ›Köln liest‹ in ihrer unnachahmlich charmanten Art vorgetragen«, erinnert er sich. Als er es später in einer Buchhandlung entdeckt, kauft er es und liebt es bis heute.

Es geht um große Themen: um das Paradies der Kindheit, das mit der gar nicht so schönen Wirklichkeit der Erwachsenenwelt konfrontiert wird, um Rassismus, um Vorurteile und um Gerechtigkeit. »Das Buch ist heute noch sehr aktuell«, findet Wondratschek. Beschrieben wird eine Kindheit in einer Kleinstadt in Alabama der 1930er-Jahre. »Die Erzählperspektive ist die des siebenjährigen Mädchens namens Scout.« Scout lebt gemeinsam mit dem Bruder und dem Vater Atticus Finch zusammen, einem Anwalt, der versucht gerecht zu leben und seine Kinder tolerant zu erziehen. Im Laufe der Geschichte übernimmt er die Verteidigung eines Schwarzen, der zu Unrecht angeklagt wird, eine junge Weiße vergewaltigt zu haben. Der Mann landet, obwohl unschuldig, in der Todeszelle und wird am Ende auf der Flucht erschossen. Auch Finchs Kinder geraten in Gefahr. Gerettet werden sie schließlich vom geheimnisvollen Nachbarn Boo Radley … Einen Satz aus dem Buch kann Holger Wondratschek fast wortwörtlich wiedergeben, weil er ein so kluger und nachdenkenswerter ist. »Man kann einen anderen nur richtig verstehen, wenn man die Dinge von seinem Gesichtspunkt aus betrachtet.« Das hatte Atticus seiner Tochter im Roman gesagt. »Wenn man in seine Haut steigt und darin herumläuft.«

»Harper Lee schafft eine dichte Atmosphäre, die ich heute noch spüre«, sagt Wondratschek. Es ist die Hitze, Größe und Farbe eines Südstaatensommers. Wenn also in Rösrath die heißen Tage anbrechen, wäre das wohl eine gute Gelegenheit, »Wer die Nachtigall stört« zu lesen, um diese aufgeladene, geheimnisvolle Atmosphäre am eigenen Leib zu spüren. (Sigrun Stroncik)

Wer die Nachtigall stört...
Roman, erschienen im Rowohlt Verlag, 416 Seiten. Gibt's als Taschenbuch für
9,99 Euro in der Buchhandlung Till Eulenspiegel in Hoffnungsthal.