Klaus-Dieter Gernert

Rösrath liest

Klaus-Dieter Gernert

Ein Band über die wilden Tiere des Krüger-National­parks. Die wilden Tiere haben mich damals wohl angezogen«, erinnert sich Gernert. Viele Jahre später studierte er Geschichte, Germanistik und Politik und blieb so der Literatur eng verbunden. Goethe und Büch­ner sind für ihn wichtige Leuchttürme. Und immer wieder liest er Lyrik. Wenn er morgens wach wird ­– das kann manchmal schon um zwei Uhr 30 sein ­– dann setzt er sich an seinen Schreibtisch und liest. »Über das Lesen und Schreiben bekomme ich Anstöße, mein eigenes Leben und das meiner Mitmenschen besser zu verstehen.« Womit wir schon bei dem Buch sind, das Gernert vorstellen möchte: Das Mädchen mit dem Fingerhut vom österreichischen Schriftsteller Michael Köhlmeier.

»Eine Art Antimärchen« oder wie manche Rezensenten schrieben: ein böses Märchen. »Es gibt jedenfalls thematische Anleihen aus dem Märchen-Fundus mit seinen archetypischen Mustern«, erklärt Gernert und verweist auf »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern« von Hans Christian Andersen oder auf »Hänsel und Gretel« der Gebrüder Grimm. »Zen­tral­­figur ist ein sechsjähriges Mädchen, das weder seine Herkunft noch seinen eigenen Namen kennt. Sie wird von einem Mann, den sie Onkel nennt, in einer nicht genau bezeichneten Großstadt tagsüber zum Betteln ausgesetzt und abends wieder abgeholt. Er hat ihr eingeschärft zu schweigen, einzig wenn das Wort ›Polizei‹ fällt, soll sie aus Leibeskräften schreien. Daran hält sich das Kind konsequent«, erzählt Gernert die Ausgangslage des nur 140 Seiten umfassenden Romans. Zunächst wird das verstummte Kind von verschiedenen Menschen mit Essen und Kleidung versorgt. Schließlich verschwindet der Onkel und das Mädchen muss sich nun allein behaupten. »Köhlmeier präsentiert eine Irrfahrt durch eine schwer durchschaubare Welt, zwischen Polizeigewahrsam und Kinderheim, in eiskalten Wäldern, Gartenhäusern und Wohlstandsvillen.«

Als eine Frau sich des Kindes annimmt, scheint die Irrfahrt ein glückliches Ende zu nehmen. »Sie umsorgt es, aber nimmt ihm auch die Freiheit. Daraus entwickelt sich der Höhepunkt der Geschichte, die in einem schrecklichen Geschehen mündet«, erklärt Gernert. »Köhlmeier beschreibt das in einem nüchternen, redu­zierten, nicht psychologisierenden Stil. Er behält dabei immer konse­quent die Außenperspektive bei.«

»Man könnte diesen Kurzroman, den ich allerdings eher für eine Novelle halte, als Buch zur jüngsten Flüchtlingskrise lesen. Er wurde aber schon vorher begonnen. Köhlmeier selbst verweist darauf, dass es von den Wolfskindern angestoßen wurde, jenen eltern- und heimatlosen deutschen Kindern, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg im ostpreußisch-litauischen Raum in die Mühlen der Weltgeschichte gerie­ten.« Thematisch scheint er sich der Flüchtlingssituation vor den Ereignissen von 2015 zu bedienen. Es geht um Autonomie und Freiheit, um das Fremdsein, den Selbstbehauptungswillen und dar­über, das Gute zu wollen, aber es auch zu verfehlen. Warum man das Buch unbedingt lesen sollte? »Wegen der aktuellen Thematik, aber auch wegen seiner literarischen Qualität! Es regt dazu an, unsere Sicht der Wirklichkeit und unser Selbstverständnis zu reflektieren und auch infrage zu stellen«, so Gernerts abschließendes Urteil. (Sigrun Stroncik)

Michael Köhlmeier, Das Mädchen mit dem Fingerhut
erschienen im Carl Hanser Verlag. Gebundene Ausgabe, für 18,90 Euro in der Buchhandlung Till Eulenspiegel in Hoffnungsthal