Rösrath liest
Christoph Velling
Lesen macht dem 16-jährigen Christoph Velling viel Spaß, doch ein kleines »Aber« schickt er gleich hinterher, denn mit so mancher Schullektüre tue er sich schwer, bekennt er. Vor allem wenn es um Texte geht, die sowohl sprachlich als auch von den Themen her so ganz weit weg sind von unserem heutigen Erfahrungshorizont, »Iphigenie auf Tauris« beispielsweise. Ansonsten kommt er mit G 8 sehr gut zurecht, macht nächstes Jahr Abitur seine Lieblingsfächer sind Mathe und Physik. Daneben engagiert er sich auch noch im Bergischen Naturschutzverein und im Jugendparlament. Zeit zum Lesen bleibt trotzdem.
Erste eigene Leseeindrücke erhielt der Gymnasiast durch die Kinderbuchreihe Pitje Puck des niederländischen Autors Henri Arnoldus. Puck ist der stets gut gelaunte Briefträger des Ortes Kesseldorf. Das beschauliche Dorfleben und die lustigen Geschichten haben Christoph Velling gleich gefallen. Doch schon bald ließ er die Beschaulichkeit hinter sich und startete in der vierten und fünften Klasse mit Harry Potter durch. Bis tief in die Nacht hinein schmökerte er, seine Welt um sich herum so sehr vergessend, dass die Eltern schon ein Leseverbot verhängen wollten. In eineinhalb Monaten hatte er alle damals verfügbaren sechs Bände verschlungen. Ein Schnellleser ist Christoph immer noch. 16 Bücher in 21 Ferientagen sprechen jedenfalls eine deutliche Sprache. Am liebsten liest er auf dem Bett, auf jeden Fall muss es dabei bequem zugehen, und seinen bevorzugten Lesestoff bezieht er aus der Fantasieliteratur. »Ich denke, weil es eine Abwechslung zu den Fakten und der Wissenschaft ist, mit der ich mich sonst beschäftige.«
Das Buch, das er vorstellen will, hat er durch Zufall in der Stadtbücherei Rösrath entdeckt: Stravaganza – Stadt der Masken heißt es. Es ist der erste Band einer Fantasieromanreihe der englischen Autorin Mary Hoffman. Hauptfigur hier ist Lucien, der im heutigen London lebt. »Er leidet an Krebs, ist sehr schwach und liegt meistens im Bett. Eines Tages findet sein Vater ein Notizbuch, das er aus einem Abrisshaus mitnimmt. Dies schenkt er seinem Sohn, damit er dort etwas hineinschreiben kann, falls das Reden für ihn zu schwer wird. Lucien schläft mit dem Buch in der Hand ein und ist auf einmal in Bellezza, eine Stadt, die an das Venedig des 16. Jahrhunderts erinnert«, erzählt Christoph Velling. Lucien wird zum Stravagante, zum Zeitreisenden. »Er springt hin und her zwischen den beiden Welten.« Von seiner schweren Krankheit spürt der knapp 16-jährige in Bellezza nichts. »Er hat dort sogar wieder Locken.« Und die Kraft, Abenteuer zu bestehen. Denn in Bellezza wird er in politische Intrigen verwickelt, mittendrin der mächtige Botschafter Rinaldo di Chimici, der den Mord an der Duchessa von Bellezza plant. Anklänge an die Medicis sind hier gewollt. Doch Lucien hat auch Helfer auf seiner Seite: die gleichaltrige Arianna und den Wissenschaftler und engsten Vertrauten der Duchessa, Rodolfo. Gleich zu Beginn des Romans wird besagter Rodolfo eingeführt. »In einem Zimmer im obersten Geschoss eines großen Hauses, das auf einen Kanal blickte, saß ein Mann und legte Karten auf einem Tisch aus, der mit einem schwarzen Seidentuch bedeckt war. Zwölf Karten ordnete er gegen den Uhrzeigersinn in einem Kreis an, das Bildmotiv jeweils nach oben aufgedeckt. Dann legte er eine dreizehnte in die Mitte des Kreises, lehnte sich zurück und betrachtete das Ergebnis. ‚Seltsam’, murmelte er.«
»Mary Hoffman schafft ein spannendes, mit historischen Versatzstücken ausgestattetes Universum«, findet Christoph Velling, das sich sogar in verschiedenen Schrifttypen für das Geschehen in London und Bellezza niederschlägt. Für den Schüler sind solche Romane absolut entspannend, gerade auch weil die Handlung allen Naturgesetzen widerspricht. Wenn Christoph Velling selbst eine Zeitreise unternehmen könnte, dann in die Weimarer Republik, aber mit der Maßgabe, in die Geschichte nicht eingreifen zu können. Das wäre vielleicht auch ein toller Stoff für einen neuen Fantasieroman. (Sigrun Stroncik)