Sigrun Stroncik

Rösrath liest

Sigrun Stroncik

Tom Sawyer, die kleine Hexe und Pippi Langstrumpf, das sind die Helden meiner Kindheit, mit denen ich vor allem abends im Bett (meistens mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, weil eigentlich ja Schlafenszeit war) die tollsten Abenteuer im Kopf erlebte, ohne die Wärme und den Schutz meines Kinderzimmers verlassen zu müssen. Dabei war Tom Sawyer eine Art Initialzündung für mich, der eigentliche Beginn meiner Leseleidenschaft. Der Jugendroman von Mark Twain lag Ende der 1960er-Jahre unter dem Weihnachtsbaum. Ich habe ihn noch in den Ferien verschlungen und mich an den Mississippi geträumt. Dieser Tom, dachte ich: Er bekommt doch glatt andere dazu, einen Gartenzaun für ihn zu streichen, und für dieses Vergnügen zahlen sie ihm auch noch Geld. Was für ein toller Bursche. Ich hatte danach mit ähnlichen Versuchen bei meiner Schwester und den Nachbarskindern nicht so viel Erfolg im Delegieren unangenehmer Aufgaben. Wahrscheinlich fehlte mir mit sieben, acht Jahren noch das psychologische Geschick.

Als Journalistin lese ich schon von Berufs wegen viel – ein Tag ohne Buch gibt es bei mir aber trotzdem nicht. Ich schmökere jeden Abend im Bett (siehe Kindheit). Und weil ich eine notorische Angst davor habe, dass mir just mitten in der Nacht der Lesestoff ausgehen könnte, stapeln sich auf dem Wohnzimmertisch in drei Türme aufgeteilt die Neuerwerbungen, die ich noch abarbeiten will. Von diesen ewig mit Nachschub bestückten Büchertürmen habe ich jüngst den besten historischen Roman herausgezogen, in den ich jemals meine Nase gesteckt habe.

»Und jetzt steh auf«, so beginnt Wölfe von Hilary Mantel – im Präsens, ein Tempus, das die ganzen 768 Seiten durchgehalten wird und die Geschichte so gegenwärtig macht und seine Hauptfiguren so heutig erscheinen lässt. Mantel hat 2009 für Wolf Hall (so der Originaltitel) den Booker Prize bekommen, den renommiertesten Buchpreis, den die Briten zu vergeben haben. Zu Recht.

Der Leser wird in eine Welt von shakespearescher Wucht gesogen, erlebt Akteure, Schauplätze, Dialoge fast wie in einem Film, bestes Kopfkino also. Die Zeit: das 16. Jahrhundert. Hauptfigur und Energiezentrum des Romans: Thomas Cromwell, der es aus einfachsten Verhältnissen zum wichtigsten Reformer und Berater von Heinrich VIII. schafft. Cromwell räumt dem König alle Steine aus dem Weg, damit Heinrich Anne Boleyn heiraten kann. Die Ehe Heinrichs mit Katharina wird annulliert, weil sie es nicht schafft, dem Reich einen männlichen Thronerben zu schenken. Cromwell bricht zudem die Macht der katholischen Bischöfe, enteignet den Klerus und gründet die Anglikanische Kirche mit Heinrich VIII. an der Spitze. Unter manchen Historikern gilt Cromwell als böse machiavellistische Figur. Im Roman von Mantel ist er nicht nur ein Manager der Macht, sondern ein weltläufiger, gebildeter, liberaler Geist, ein Mann, der durch sein Können, nicht durch seine Herkunft aufsteigt. Er schart Freunde um sich, denen er vertrauen kann und die ihn mit wichtigen Informationen versorgen – so einen würde man heute wohl Netzwerker nennen. Auch den Geldfluss hält Cromwell immer am Laufen, finanziert den Adel und den einfachen Bürgersmann und schafft sich so Abhängigkeiten, was seinen Zielen nutzt.

Mantel erzählt das in einer klaren, pointierten und modernen Sprache, wechselt ständig die Perspektive von subjektiv zu objektiv und wieder zurück, meistens aber sehen wir die Welt mit Cromwells Augen. Er ist ein Fuchs und ein Wolf, der sich am Hof der Tudors unter Wölfen behaupten muss, um nicht gefressen zu werden. Obwohl die Autorin sich an die verbürgten historischen Fakten hält, ist das Buch unheimlich spannend. Denn der Blick wird nicht auf das »Was geschieht«, sondern auf das »Wie geschieht es« gelenkt. Nicht die Schlachtfelder sind dabei entscheidend, nicht die großen Staatsaktionen, Geschichte wird in den Hinterzimmern der Macht betrieben, zwischen Menschen, die miteinander reden, die ihre wahren Intentionen verbergen, die taktieren und ständig wechselnde Allianzen schmieden. Hier wird gezeigt, wie Politik funktioniert, nicht nur im 16. Jahrhundert, sondern auch heute. Das ist fesselnd, amüsant, unterhaltsam und das Beste daran: Ganz nebenbei wird man dadurch auch noch gebildet. (Sigrun Stroncik)