Wolfgang Knüll

Rösrath liest

Wolfgang Knüll

In seinem Haus hat er sich eine gemütliche Bibliothek eingerichtet. Hier schlummern alte wertvolle Ausgaben, moderne schön ge­bun­dene Titel und jene Werke, die wichtige Wegbegleiter in seinem Leben wurden, Bücher eben, die man mehr als einmal gelesen haben muss, »weil man morgen ja schon wieder ein anderer ist«, so Knüll, und sich dadurch der Blick verändert und die Erkenntnis.

An sein erstes selbst gekauftes Buch erinnert er sich gut. 1962, Albert Camus, »Die Pest«. Er war 16 Jahre alt, lebte in Nordenham an der Wesermündung und Camus war für ihn so etwas wie eine Sensation. »Vor allem die Passagen, wo es um die Verlogenheit der Welt ging, haben mir damals aus der Seele gesprochen«, erinnert er sich. In späteren Jahren entdeckte Knüll den österreichischen Satiriker und Dramatiker Karl Kraus für sich – und Marcel Proust. »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« las er innerhalb eines Jahres. Sieben Bän­de, 4000 Seiten, ein Jahrhundertwerk. »Das hat mich sofort berührt und seitdem nicht mehr losgelassen, weil

Proust ein sehr starkes Verständnis für die Seelenzustände des Men­schen hat.« Überhaupt sucht Knüll nach Werken, bei denen er eine gewisse Resonanz spürt, eine Art Donner­schlag wie bei der Liebe, wenn sie so plötzlich auftaucht, und die Ah­n­ung, dass sie jetzt wirklich da ist, einen streift. Dabei erfreut sich Knüll an Texten, in denen kein überflüssiger Satz steht, frei nach dem Erich-Kästner-Motto »Mensch, werde wesentlich.« Überflüssige Sätze oder gar Geschwätzigkeit gibt es bei dem Buch, das Knüll vor­stellen möchte, be­stimmt nicht. Roger Willemsen: Die Enden der Welt.

»Willemsen, den ich schon lange schätze, hat in 30 Jahren viele Reisen gemacht, war auf allen fünf Kontinenten unterwegs und hat all die Orte und Ereignisse 2010 in diesem Band zusammengefasst. Dabei sind hier keine üblichen Reisebe­richte versammelt, die irgendetwas Touristisches abarbeiten. Seine Texte sind tiefgründig und literarisch dicht. Willemsen erfasst die Seele der Zeit und blickt in die Seelen der Menschen, denen er begegnet. Er ist Beob­achter, Teilhaber, Freund, Kamerad und eben immer durch und durch Mensch«, erklärt Wolf­gang Knüll seine Begeisterung für das Buch. »Ich dach­te damals auch, wenn man reise, bis man irgendwo einmal das Ende der Welt berührt zu haben glaubt, dann erreiche man vielleicht auch einen neuen, andersartigen Zustand des Ankommens. Man müsste wohl unwillkürlich denken, dass alle Reisen ein Ende haben könnten, so unabschließbar sie auch eigentlich sind. Es würde eine Kraft von diesem Ort ausgehen wie im Märchen, wo der Riese auch aus der Berührung der Erde seine Stärke bezieht.« So heißt es am Anfang des Buches, am Startpunkt sozusagen, im Kapitel »Die Eifel«. Insgesamt findet Willemsen auf 22 Stationen zwischen Gibraltar und Island, Minsk, Patagonien, Timbuktu, Bombay, Kamtschatka und dem Nordpol geografische und per­sön­liche Enden. Er ist an einem Flussufer in Afghanistan, an einem Sterbebett in Minsk oder im Krieg im Kongo. Besonders verstörend war für Knüll die Episode in einem Bordellflur von Bombay, »albtraumhaft, eine Art Slum in Gotham City«. Und mittendrin im Buch deutet der Autor an, dass das Reisen auch mit Verschwinden verbunden ist, mit der Auslöschung des Ichs, auch mit dem finalen Ende, dem Tod, der Willemsen selber in diesem Jahr ereilte mit gerade mal 60 Jahren. Willemsen ist jemand, der genau hinsieht, eintauchen will in die tieferen Schichten der Welt. »In diesem Sinne ist das Buch«, so Knüll, »eigentlich ein Lebensführer.« Und eine ganz große Erzählung. (Sigrun Stroncik)

Roger Willemsen, Die Enden der Welt, erschienen im Fischer Verlag.
Taschenbuch, 544 Seiten für 10,99 Euro in der Buchhandlung Till Eulenspiegel in Hoffnungsthal.