Kinder- und Jugendpsychiatrische Praxis
»DIN-Normen für Menschen gibt es nicht«
Der Rösrather Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Josef Kirchner weiß, dass man sich von solchen Vorstellungen verabschieden muss, wenn man möchte, dass seine Kinder seelisch gesund aufwachsen sollen. 10 000 junge Patienten zwischen sechs und zwölf Jahren mit verschiedenen seelischen Störungen hat er schon therapiert, »eine Kleinstadt also«, bemerkt er. Seine Praxis-Erfahrungen und die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung und Evolutionsbiologie sind nun in ein Buch eingeflossen: »Kinder, Kinder – Nicht unsere Kinder sind verrückt, sondern die Welt, in der sie leben.«
Kirchner legt hier keinen weiteren Erziehungsratgeber vor. Patentrezepte gebe es sowieso nicht, meint er. Denn schließlich komme ein Kind nicht als Tabula rasa auf die Welt, um mit dem richtigen Erziehungsstil in alle Richtungen geformt werden zu können. Was wir unseren Kindern von der Welt erzählen stimmt ja nicht: »Ewige Liebe und Treue« oder »wenn du nur willst, kannst du alles schaffen«. Kinder sind gleichwertig, gleichberechtigt, aber nicht gleich. »Wir aber behandeln sie wie Mastvieh, als Ertragsfaktor, und vergessen, dass sie uns glücklich machen«, gibt der Familienvater zu bedenken. In seinem unterhaltsamen und leicht verständlichen Buch führt er uns vor Augen, wie der Mensch von seiner Geburt bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter seine Persönlichkeit entwickelt. Und er zeigt auch, wie schmal der Grat zwischen dem ganz alltäglichen Irrsinn unserer immer komplexer werdenden Gegenwart und einer ernst zu nehmenden psychischen Störung oft ist. Dabei stellt der erfahrene Facharzt auch die häufigsten Symptome von Störungen des seelischen Gleichgewichts bei Kindern und Jugendlichen vor sowie erprobte und erfolgreiche Behandlungsstrategien. »Unsere Kinder sind, wie sie sind, ausgestattet mit verschiedenen Betriebssystemen können sie nur in gewissen Grenzen in der Erziehung geformt werden.«
Manche »Betriebssysteme«, zum Beispiel ADHS oder Autismus, sind unter anderen Umständen vielleicht ideal, passen aber nicht in unsere heutigen Normen, schon gar nicht in die schulischen. Das ist das eigentliche Problem. »Mit den Normerwartungen habe ich in meiner täglichen Arbeit zu kämpfen, um meinen Patienten Wege aus Krisen zu eröffnen«, sagt Kirchner. Er plädiert dafür, unsere Erwartungen, Ansprüche und Werte zu hinterfragen, aber auch die von uns geschaffene Welt, in die wir unsere Kinder hinein erziehen. »Das System unserer Gesellschaft muss auch die integrieren, die noch nicht reif genug, nicht klug genug, nicht vorsichtig genug und nicht ‚einträglich’ genug sind. Sonst werden sie es nie«, heißt es in seinem Buch, das, so sagt er, sich an all jene richtet, die sich fragen, warum etwas nicht so ist, wie es von der Umgebung erwartet wird oder sie selbst es sich wünschen. (Sigrun Stroncik)