Kieferorthopädie
Technische Innovationen erfordern immer den Facharzt
Vor neun Jahren haben Sie die Praxis Ihres Vaters übernommen, wie hat sich seitdem die Kieferorthopädie verändert?
Dr. Schicker: Unsere Therapiemöglichkeiten haben sich in den letzten Jahren enorm erweitert, beispielsweise durch die Aligner-Technik. Auch die Digitalisierung kieferorthopädischer Prozesse spielt für meine Arbeit eine immer bedeutendere Rolle. Digitale Abdrücke und digitale Behandlungsplanung gehören längst zum Alltag. Zudem hat sich die Kieferorthopädie in den letzten Jahren komplett gedreht. Alte Dogmen wurden verlassen. Die Extraktionstherapie, also das Ziehen bleibender gesunder Zähne, gibt es nicht mehr. Auch die Kariesgefahr während der Therapie gibt es so gut wie nicht mehr.
Wie halten Sie sich selbst immer auf dem neusten Stand Ihres Fachs?
An erster Stelle durch regelmäßige Weiterbildung. Außerdem arbeite ich mit der Universität Greifswald an Forschungsprojekten, bin in wissenschaftlichen Zirkeln, wo ich mich mit Kollegen austauschen kann, und fahre zu internationalen Tagungen. Seit mehreren Jahren gebe ich auch selber mein Wissen weiter und zertifiziere und informiere andere Ärzte. Stillstand geht auf unserem Gebiet nicht.
Welchen Mehrwert hat die Digitalisierung für den Patienten?
Im Prinzip können wir heute ein schmerzfreies Behandlungserlebnis garantieren. Schon bei der ersten Beratung des Patienten kann ich die Zahnreihen abscannen, eine digitale Planung erstellen und verschiedene Therapievarianten durchspielen, dank des digitalen Abdrucks.
Aligner oder Brackets, wohin bewege ich die Zähne, wie erreiche ich das funktionelle und ästhetische Optimum für den Patienten? Die Therapie wird individueller, vorhersagbar und wesentlich sicherer. Ich bin überzeugt, dass der digitale Abdruck die herkömmliche Abformung mittels Abdrucklöffel und Abdruckmasse bald komplett ersetzen wird. Ein großes Plus für den Patienten, der bei der herkömmlichen Methode oft von Würgereiz oder leichter Erstickungsangst geplagt wurde. Zudem können digitale Abdruckdaten optimal in den Arbeitsprozess zur Aligner-Herstellung eingebunden werden. Darüber hinaus motiviert es unsere Patienten sehr, wenn sie sehen, wie sich die eigenen Zähne bewegen und wie schön das Gebiss am Ende der Behandlung aussehen wird.
Sie haben die Aligner schon angesprochen. Welchen Stellenwert haben sie in der Kieferorthopädie?
Die Korrektur von Zahnfehlstellungen mit einer Serie von nahezu unsichtbaren individuell angefertigten Schienen hat sich zu einem wichtigen Therapiebereich entwickelt, vor allem auch in der Behandlung von Erwachsenen, und zwar für jedes Alter! Für den Patienten wird eine Serie von Schienen angefertigt, je nach Zahnfehlstellung 14-80 Stück. Jede wird eine Woche getragen und dann durch die nächste ersetzt. Jede der Schienen übt einen geplanten Druck aus und bewegt die Zähne schonend im Kiefer. Die Behandlung kann drei bis 30 Monate dauern und ist effektiv und angenehm. Je nach Indikationsstellung kann sie anderen Therapieformen überlegen sein.
Bei so viel technischer Innovation müsste es der Kieferorthopäde doch heute leichter haben, oder?
Die neuen Systeme erfordern einen erfahrenen Facharzt, der mit den sich ständig erweiternden Möglichkeiten auch virtuos umzugehen weiß. Schließlich geht es am Ende um 28 Zähne und vier Dimensionen. Da ist die Vorstellungskraft des Therapeuten enorm wichtig, zumal selbst ein leichtes Bewegen der Zähne Auswirkungen auf den gesamten Körper hat. Umso wichtiger ist es, sich auf einen Kieferorthopäden mit entsprechender Ausbildung zu verlassen, gerade auch bei der Aligner-Technik. Denn dieses System macht exakt das, was der Therapeut vorgibt und ist deshalb erheblich komplexer in der Planung. In meiner Praxis haben wir bereits weit mehr als 1000 Aligner-Behandlungen erfolgreich durchgeführt. Aus diesem Grunde gebe ich auch regelmäßig Fortbildungen für Kollegen.
Aligner-Start-ups bieten neuerdings das »perfekte Lächeln im Do-it-yourself-Verfahren« an. Was denken Sie darüber?
Ich halte das für gefährlich. Ich behandele gerade Patienten, die das leider ausprobiert haben und nun unter schweren parodontalen Problemen leiden. Denn diese Werkzeuge sind nur so gut wie derjenige, der die Behandlung durchführt. Bei den meisten Internet-Anbietern weiß der Patient aber gar nicht, wer ihn da eigentlich betreut. Zum Standard einer kieferorthopädischen Behandlung gehört, dass alle Zähne und Zahnkeime mit bildgebenden Verfahren dargestellt werden. Das ist bei den Internet-Anbietern meistens nicht der Fall. Oft sieht der Patient den Arzt auch nur einmal zu Beginn der Behandlung. Es gibt größtenteils keine Verlaufskontrollen. Ein Gericht hat festgestellt, dass das »dem Standard einer kieferorthopädischen Behandlung« völlig widerspricht. Wir sprechen also davon, dass noch nicht einmal der Standard in Diagnostik und Therapie eingehalten wird. Man sollte sich also gut überlegen, ob man sich Aligner im Netz bestellt und sich damit quasi selbst therapiert, ohne die physiologischen Zusammenhänge sowie die Möglichkeiten, Grenzen und Risiken der Behandlung zu kennen.
Das Interview führte Sigrun Stroncik